Sachgemäß über die Erfahrungen der (alltäglichen) Dinge in der Kunst der Gegenwart

Sachgemäß

über die Erfahrungen
der (alltäglichen)
Dinge in der Kunst der Gegenwart

 

Sieht man einmal vom Genre des Stilllebens ab, so fristen die Dinge des Alltags
in der Kunst vergangener Epochen ein Dasein am Rande der Bedeutungslosigkeit. Erst das 20. Jahrhundert schärft den Blick für die trivialen Objekte dieser Welt. Ihre Erhebung in den Stand des untersuchungswürdigen künstlerischen Themas wird zum Inbegriff eines Wandels, der im Gefolge von beginnender Industriali-sierung und hereinbrechendem Konsumzeitalter die Beziehung zwischen Mensch und Gegenstand grundlegend revidiert.

Die Erfahrung der alltäglichen Dinge in der Kunst der Gegenwart steht ihm Mittelpunkt der Ausstellung, die der Galerieverein Leonberg in Zusammenarbeit mit dem Kulturamt der Stadt durchführt. Unter dem Titel sachgemäß zeigen neun Künstlerinnen und Künstler aus Österreich, Deutschland und der Schweiz malerische, fotografische, installative und skulpturale Arbeiten, welche die Individualität und Heterogenität in der inhaltlichen und medialen Auseinander-setzung mit der Gegenstandswelt dokumentieren.

Am Beginn des 21. Jahrhunderts lässt sich in der bildenden Kunst eine verstärkte Hinwendung zur Beschäftigung mit existentiellen Themen beobachten. Sie betreffen das menschliche Leben und seine Vergänglichkeit ebenso wie die Rollenverteilung, die Verhaltensmuster und den Fortbestand unserer Gesellschaft mit all ihren oft als bedrohlich empfundenen technischen Errungenschaften. Mit zunehmender Häufigkeit werden die Dinge zum künstlerischen Motiv. Doch in einer Zeit, die sich täglich beliebig neue virtuelle Welten erschafft, die digitale Realitäten in den Informationsfluss des Internets einspeist und mit immer größerer Geschwindigkeit Generationen von Gegenständen und Apparaten austauscht, erscheinen uns die Waren- und Gebrauchsdinge des Alltags vielfach fremd geworden. Aus einem vordergründigen Konsuminteresse nehmen wir sie in ihrer Formgebung, ihrem angedachten Nutzen, ihrer ursprünglichen Instrumen-talität und ihren Bedeutungsdimensionen kaum noch wahr. Es bedarf erst einer bewussten Willensanstrengung, um diese habituelle Blindheit zu überwinden und die Gegenstandswelt für sich selbst als etwas Be- und Widerständiges im unbarmherzigen Fluss der elektronischen Zeit neu zu erfahren. Diese Willens-anstrengung leisten jene Künstlerinnen und Künstler, die im Galerieverein ausstellen und die sich ohne Wertehierarchien zu verfolgen mit dem uniformen seelenlosen Artefakt der technischen Massenproduktion, mit dem beliebig reproduzierbaren Waren-Ding ebenso wie mit dem unverwechselbaren, manuell gestalteten Original beschäftigen.

Sachgemäß, mit kundigem Verständnis für die komplexen Strukturen des Gegenständlichen suchen Harry Hauck (D), Martin Huidobro (D), Iska Jehl (D), Irene Naef (CH), Thomas Raschke (D), Heinrich Salzmann (A), Anne Schneider (A), Florian Slotawa (D) und Andrea Witzmann (A) in der Erforschung unserer alltäglichen Räume nach einem neuen Zugang zur „Lesbarkeit der Welt“. Sie finden auf den Wegen ihres Alltagslebens die Motive ihrer Arbeit. Mobile und statische Gebrauchsutensilien, Spielsachen und Kleider, Lebensmittel-verpackungen, Haushaltsgeräte, Architekturbausteine, Mobiliar und Fahrzeuge aller Art, Gegenstände und Sachgruppen also, mit denen wir einen routinierten Umgang oder auch nur beiläufige Kontakte pflegen, werden zum Ausgangspunkt für die Befragung funktionaler Anwendungsbereiche, ästhetischer Werte, inhaltlicher Bedeutungshintergründe und innerer Befindlichkeiten.

In Bildern, Fotografien, Skulpturen und Installationen liefern die Künstlerinnen und Künstler, Zustandsberichte der substantiellen und formalen Beschaffenheit der Dinge ebenso wie ihrer ideellen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Qualitäten. Die Ambivalenzen und vielfältigen Bedeutungsdimensionen, die in den uns gegebenen und uns umgebenden Gegenstän-den stecken, werden sinnfällig. Von romantisierenden Erscheinungen über die expressive Wesensschau bis hin zur Erfahrung der Fremdheit fragt der erkenntnistheoretische Blick nach dem Was und der Natur der Dinge überhaupt, nach den Kategorien von ’schön‘ und ‚hässlich‘ samt ihren zugehörigen Stimmungswerten. Daneben konzentriert sich das künstlerische Interesse aber auch auf das bloß registrierende Vorzeigen von gewöhnlichen und banalen Dingen, womit sich der kritische Hinweis auf die fragwürdigen Lebenspraktiken der kommerzialisierten Industriegesellschaft verknüpft.

In den Arbeiten von Harry Hauck, Martin Huidobro, Iska Jehl, Irene Naef, Thomas Raschke, Heinrich Salzmann, Anne Schneider, Florian Slotawa und Andrea Witzmann erscheint die Welt der Gegenständlichkeit mit ihren assoziativen, synästhetischen Eigenschaften und ihrem individuell wesenhaften Charakter als ein Manifest des Daseins, an dem sich die Reflexion über Identität, Zeit und Künstlichkeit, Authentisches, Echtes und Falsches entzündet.

Personen finden sich in den Werken nicht, doch der Mensch ist anwesend. Er stellt sich in seinen Produkten dar, die er als Überbleibsel und Lebensspuren seiner Existenz hinterlässt. Sie zeugen von seiner Tätigkeit, seinen Ideen und seinem Geschmack. Der Begriff der „Dingbedeutsamkeit“, mit welchem die klassische Volkskunde die Tatsache umschreibt, dass Menschen eine mehr als nur zweckgerichtete Beziehung zu den Objekten ihres Handlungsraumes eingehen, rückt hier wieder ins Zentrum der künstlerischen Perspektive.

Erst im Umgang mit den Dingen, die wir benötigen und verbrauchen, die wir erwerben, sam-meln, pflegen, aussondern und vernichten, erkennen wir uns selbst. Und so ist jede künstlerische Auseinandersetzung mit der Alltäglichkeit der Gegenstandswelt eine Standortbestimmung der Bedürfnisse, Ansprüche und Sehnsüchte des Menschen in seiner Zeit und an seinem Ort. Harry Hauck, Martin Huidobro, Iska Jehl, Irene Naef, Thomas Raschke, Heinrich Salzmann, Anne Schneider, Florian Slotawa und Andrea Witzmann entwickeln neue Strate-gien im Umgang mit den Fragmenten der Wirklichkeit. Stil wandelt sich hier vom formalen Fundus zur individuellen Haltung. In einem Beziehungsspiel zwischen Orten, Autoren und Betrachtern erlangen ihre Kunstwerke den Status von Merkzeichen gegen den Persönlichkeitsverlust und die Verlorenheit in Zeit und Raum.

Anlässlich der sachgemäß-Ausstellung, die an mehreren Orten in Deutschland und der Schweiz zu sehen ist, erscheint ein umfangreich bebildertes Buch, das die Ideen und Ansätze der ausstellenden Künstlerinnen und Künstler ausführlich kommentiert und dokumentiert.

Dr. Stefanie Dathe, Kunsthistorikerin und Ausstellungskuratorin

Abbildung – Martin Huidobro

Samstag März 5 2005 — Sonntag April 24 2005
11:15

Galerieverein Leonberg e.V.